Weitere Kinderbücher zum Thema „Mutismus“
Wie ihr vermutlich schon mitbekommen habt, liegt mir das Thema „Mutismus bei Kindern“ ganz besonders am Herzen. Ich habe euch bereits zwei Bücher dazu vorgestellt: Der Junge in der Nussschale von Anne Gauß und Es wird gut kleine Maus von Gabriele Kloes und Jutta von der Lühe. In der Zwischenzeit sind zwei weitere Bücher zum Thema erschienen. In Wolkentag nimmt sich die Autorin Anne Gauß erneut der Thematik an, in Selina Stummfisch erzählen Karen-Susan Fessel und Rosa Linke wie das Mädchen Selina ihren Mutismus langsam aber sicher überwindet. Beide Bücher möchte ich euch heute näher vorstellen.
Anne Gauß: Wolkentag – Eine Geschichte über Verlust und Trost. iskopress, Salzhausen 2018
Die Autorin
Anne Gauß beschäftigt sich seit ihr Sohn an Mutismus erkrankte mit dem Thema. Dazu besucht sie die jährlich stattfindenden Tagungen des Mutismus-Selbsthilfe e.V. Mit ihrem Buch Der Junge in der Nussschale ist sie bereits für ängstliche, schüchterne und mutistische Kinder, deren Eltern und auch anderen Kindern und Erwachsenen, die mit der Krankheit Mutismus in Kontakt kommen, eine große Hilfe gewesen.
Inhalt
„[…] Lea, die Heldin der Geschichte, ist fünf Jahre alt, als ihr kleiner Bruder stirbt, und sie reagiert darauf mit Verstummen. Psychologen nennen das Symptom selektiver Mutismus. […] Anne Gauß erzählt einfühlsam und ohne Sentimentalität, wie es Lea gelingt, Schritt für Schritt in die Welt der Worte zurückzufinden. Dabei bleibt Lea dem kleinen Bruder treu. Die lebendige Erinnerung hilft ihr, ihr Trauma zu überwinden.“ (Klappentext)
Kritik und Fazit
Das Cover von Wolkentag ähnelt sehr dem von Der Junge in der Nussschale, nur dass die Hauptfarben grün und blau vertauscht sind und natürlich der jeweilige Hauptprotagonist in einem kleineren Bild dargestellt wird. Wieder erinnern die Zeichnungen an Bilder, die von Kinderhand stammen. Die Farben sind oft dunkel gehalten und fangen so die traurige Stimmung gut ein.
„Es war ein Wolkentag. Diese Tage hatte Max so gern gemocht. Und Lea war sich vollkommen sicher, dass er genau jetzt auf einer dieser riesigen, flauschigen Wolken saß, die Beine baumeln ließ und ihr zuschaute.“ (Seite 39)
Lea erinnert sich an all die Sachen, die ihr Bruder Max mit ihr gemacht hat. Er war ihr Fels in der Brandung, ohne Ängste wagte er jedes Abendteuer. Doch auf einmal ist er weg, gestorben und Lea fehlt sein Mut um ihren Alltag zu bestreiten. Sie stellt sich vor, wie ihr Bruder, der schon immer fliegen konnte, nun im Himmel fliegt und glücklich ist. Lediglich drei Buchstaben sind Lea geblieben, die sie sicher unter ihrem Bett verwahrt und nur abends benutzt: M, A, X.
Doch es gibt auch Momente, in denen Lea wütend auf ihren Bruder ist. Weil er weg gegangen ist und die Buchstaben mitgenommen hat. Den Mut könne er behalten, aber die Buchstaben braucht sie so sehr, um mit anderen Kindern sprechen zu können. Doch auch die Leute, zu denen Leas Mutter mit ihr geht, können ihr nicht dabei helfen, die Buchstaben wieder zu finden.
Nach und nach bekommt Lea dann aber Buchstaben geschenkt oder findet sie unterwegs. Noch verwahrt sie die Buchstaben in einer Schatzkiste unter ihrem Bett. Doch an einem Wolkentag, nimmt sie die Buchstaben in ihrer Tasche mit in den Kindergarten, und dort geht ihr das erste Wort seit dem Tod ihres Bruders über die Lippen: HALLO!
Anne Gauß beschreibt hier ganz behutsam, wie es Lea nach dem Tod ihres Bruders geht. Manchmal ist sie froh, denn sie weiß, dass es ihrem Bruder im Himmel gut geht. Aber manchmal ist sie eben auch wütend auf ihn, weil er sie alleine gelassen hat.
Dann, aus einer Richtung aus der die Eltern es wohl nie kommen gesehen hätten, erreicht Lea der erste Buchstabe. Ist der Anfang erst einmal gemacht, schafft es Lea Stück für Stück, sich ihre Sprache wieder neu zusammenzusetzen. Es geht nicht von jetzt auf gleich, aber mit etwas Geduld wird die Trauer um den Bruder verarbeitet und Lea kehrt ins Leben zurück.
Im Anhang schreibt Tanja Gethöffer, eine betroffene Mutter, einen Brief an die Eltern. Sie erzählt von ihrem Erlebnis mit ihrer Tochter Lea nach dem Tod des Bruders. Es wird deutlich, dass die Erkrankung keine Seltenheit ist, dass die Eltern aber zum Teil zu spät vom Schweigen des Kindes erfahren und sich dann auf die Suche nach einer geeigneten Therapie machen.
Außerdem befindet sich am Ende ein Infotext zum Selektiven Mutismus, der aufklärt, worum es sich da genau handelt und dass es eben keine einfache Schüchternheit ist.
Auch Adressen und Buchtipps – sowohl Sekundärliteratur, als auch Kinderbücher – sind hier zu finden.
Wolkentag von Anne Gauß ist ein so wichtiges Kinderbuch. Es beschreibt, was in einem Kind vor sich geht, welches an Mutismus erkrankt ist und es macht Hoffnung. Hoffnung, dass betroffene Kinder ihre Sprache wiederfinden können und ein ganz normales, unbeschwertes Leben führen können.
Anne Gauß
Wolkentag
40 Seiten
ohne Altersabgabe (ich würde sagen ab Kindergartenalter)
ISBN 978-3-89403-376-7
Karen-Susan Fessel & Rosa Linke: Selina Stummfisch – Wenn Kinder schweigen. kids in Balance, Köln 2019
Die Autorin und die Illustratorin
Die Berlinerin Karen-Susan Fessel ist Schriftstellerin und hat seit 1994 über 30 Romane und Erzählungen veröffentlicht. Die Zielgruppe erstreckt sich dabei von Kindern über Jugendliche bis hin zu Erwachsenen. Ihre Bücher wurden zum Teil mehrfach ausgezeichnet.
Rosa Linke lebt in Weimar und arbeitet dort als selbstständige Grafikerin und Illustratorin. Dabei ist sie für verschiedene Verlage, Agenturen und Stiftungen tätig.
Inhalt
„Selina redet nicht mir jedem. Und schon gar nicht mit Erwachsenen! Wenn jemand sie anspricht, wird sie ganz steif und guckt starr vor sich hin. >Stumm wie ein Fisch<, sagen dann manche ärgerlich. Zu Hause aber liest Selina ihrer kleinen Schwester alle Bücher über Wilbur, das Wusel, vor. Doch bei der Autorenlesung in Selinas Schule steht sie wieder starr und stumm da! Es muss etwas geschehen – Selina findet Hilfe und lernt in kleinen Schritten, wie sie der Angst ein Schnippchen schlagen kann.“ (Klappentext)
Kritik und Fazit
Das Cover dieses Buches gefiel mir sofort, denn es nähert sich der Thematik ein wenig mit Witz. Sowohl der Fisch, als auch Selina schwimmen im Wasser und sie sehen sich dabei wirklich ein wenig ähnlich. Auch die Illustrationen im Buch haben durchaus Humor, hier und da entdeckt man versteckte Dinge in den Bildern.
Ganz toll finde ich hier zu sehen, wie die kleine Schwester Nellie für Selina zum Sprachrohr geworden ist und sie dabei ganz selbstverständlich so nimmt, wie sie eben ist: sprachlos. Nellie ermöglicht es Selina so, ein wenig mehr am Leben teilnehmen zu können. Doch auch sie stößt an ihre Grenzen und die Eltern sehen endlich ein, dass Selina Hilfe von außen braucht.
Selina geht also mit Nellie und ihrer Mutter zu einem Arzt. Dieser agiert sehr einfühlsam und lobt das, was Selina kann. Trotzdem nimmt er Selinas Sprachlosigkeit ernst und schickt sie zu einer Therapeutin, die ihr hilft, ihre Angst vor Fremden zu überwinden. Auch zu Hause bekommt Selina neue Aufgaben gestellt, wie das Einkaufen. Das ist eine gute Übung, denn es sind nicht viele Worte nötig, und manchmal reichen sogar Gesten. Aber so lernt Selina, mit Fremden in Kontakt zu treten, ohne dabei Hilfe durch ihre Familie zu haben.
Auf der Seite des Verlages gibt es zusätzlich einen Download-Link. Auf neun Seiten erfährt man vieles über Mutismus. Was ist Mutismus? Wie erkenne ich Mutismus? Welche Ursachen hat Mutismus? Wer stellt die Diagnose? Wo bekomme ich Hilfe? Was können sie Eltern beitragen? Wie können Pädagogen dem Kind helfen?
Auch in Selina Stummfisch wird ganz deutlich, dass eine Heilung nicht über Nacht vonstatten geht, sondern ein Prozess ist, der viel Geduld und vor allem Mut braucht. Selina lernt, ihrer eigenen Stärke zu vertrauen. Sie schafft es so, ihre Blockade zu überwinden und mit Fremden zu sprechen. Genau wie in Wolkentag ist ganz klar, Selina muss am Ende nicht reden wie ein Wasserfall, es reicht aus, wenn sie sich sprachlich verständigen kann.
Karen-Susan Fessel & Rosa Linke
Selina Stummfisch – Wenn Kinder schweigen
40 Seiten
ab 5 Jahren
ISBN 978-3-86739-177-1