Camilla Chester: Nenn mich Löwe. Magellan Verlag, Bamberg 2023
Selektiver Mutismus und Analphabetismus in einer schönen Geschichte für Kinder leicht erklärt.
Wie passen die Themen Selektiver Mutismus (kurz: SM) und Lese-Rechtschreib-Störung (kurz: LRS) in einem Buch zusammen? Das fragte ich mich, als ich beim Magellan Verlag das Buch Nenn mich Löwe von Camilla Chester entdeckte. Wer meinem Blog schon eine Weile folgt, der weiß, dass genau diese beiden Themen mich ganz besonders umtreiben und ich habe auch schon einige Bücher dazu vorgestellt. Dabei war aber keines, welches beide Themen behandelt und schon gar nicht in Romanform. Die meisten Bücher waren Bilderbücher, bis auf Hey, Milla! Ich war ehrlich gesagt etwas skeptisch, wie Mutismus und LRS zu einem Paket werden können. Ich kann euch aber schon mal so viel sagen: Es funktioniert und es macht absolut Sinn! Und ich wünsche mir, dass dieses Buch in viele Kinderzimmer einziehen wird.
Viele Leute wollen die Stille ganz schnell mit Worten füllen, aber ich mag sie. Die Stille hat etwas Sanftes, es ist, als ob die Luft mich tragen würde.
Camilla Chester: Nenn mich Löwe (Seite 105)
Die Autorin, die Illustratorin und die Übersetzerin
Camilla Chester lebt mit ihrer Familie in England ganz in der Nähe von Luton, wo ihr Kinderbuchdebüt Nenn mich Löwe spielt. Sie hat schon immer gerne geschrieben, aber sie hat auch eine Leidenschaft für Tiere. Über ihren eigenen Hund schreibt sie sogar ein Online-Tagebuch.
Irina Avgustinovich ist eine Illustratorin. Sie stammt aus Weißrussland, lebt inzwischen aber in Portugal. Sie machte ihren Bachelor-Abschluss in klassischer Malerei und Keramik, nun ist sie aber hauptsächlich Kinderbuchillustratorin. Ihr 6-jähriger Sohn ist ihr dabei eine große Inspiration. Die Kraft der Fantasie ist ihr besonders wichtig und so arbeitet sie mit ganz unterschiedlichen Texturen. Bisher sind schon circa 50 Bücher mit ihren Illustrationen erschienen.
Pia Jüngert (geboren 1972) lebt mit ihrer Familie in Karlsruhe. Bereits in der Grundschule entdeckte sie ihre Liebe zu Büchern, machte sie so auch später zum Beruf. Zunächst einmal war sie aber einige Jahre als Logopädin tätig, bevor sie Sprach- und Kulturwissenschaften studierte. Außerdem machte sie ein Übersetzer-Diplom und ein Lektoratsvolontariat. Inzwischen arbeitet sie als freie Übersetzerin und Lektorin für verschiedene Verlage.

Inhalt
„Leo wünscht sich nichts mehr als einen richtigen Freund. Jeden Tag hüpft er auf seinem Trampolin, ohne dass etwas Aufregendes passiert. Aber als ein Mädchen auf der anderen Seite des Gartenzauns auftaucht und redet wie ein Wasserfall, staunt Leo nicht schlecht. Zu seiner Überraschung stört es Richa überhaupt nicht, dass er auf keine ihrer Fragen antwortet. Als sich Leo schließlich ein Herz fasst und in einem Brief erklärt, warum er nicht mit ihr sprechen kann, reagiert Richa ganz anders als erwartet. Allmählich begreift Leo, dass seine Freundin ein großes Geheimnis hütet …
Eine einfühlsame Freundschaftsgeschichte darüber, dass Verständnis keine Worte braucht.“
(Klappentext)
Kritik und Fazit
Das Cover strahlt nur so vor hellen und sonnigen Farben, Die beiden Hauptprotagonisten Leo und Richa sind zu sehen, wie sie fröhlich auf einem Hügel aufeinander zulaufen. An den Seiten sind ihre jeweiligen Häuser zu sehen. Der gelb-grüne Himmel mit seinen Wellen scheint vor lauter Energie ganz aufgeladen zu sein. Hier kann man deutlich die Kraft der Fantasie erkennen, die der Illustratorin besonders wichtig ist.
Auch das Vor- und Nachsatzpapier haben eine wunderschöne Illustration bekommen, in welcher ganz deutlich wird, wie gern die beiden Kinder sich haben. Natürlich darf auch der kleine Hund von Leo nicht fehlen. Im Buch selbst gibt es bis auf der Titelseite, den Kapitelanfängen und einigen kleinen Löwenzahnpflanzen, welche Abschnitte markieren, keine weiteren Illustrationen. Aber diese wenigen reichen vollkommen aus, da der Text sehr gut für sich alleine stehen kann und die Fantasie genug Anregung bekommt, um sich alle Episoden der Geschichte vorstellen zu können.

Wie bereits oben erwähnt, macht es absolut Sinn, die beiden Themen Selektiver Mutismus und LRS in eine Geschichte zu packen. Denn genau die Besonderheiten der beiden Einschränkungen sorgen für den Konflikt in der Geschichte. Wie soll sich ein Junge ausdrücken, der nicht sprechen kann? Natürlich, indem er schreibt! Aber wie soll das Kind, welches einen sehr wichtigen Brief bekommt, selbst aber nicht lesen kann, erfahren was da genau los ist? Wie sollen sie also kommunizieren? Die Autorin hat hier eine ganz moderne Möglichkeit gefunden, doch bis es soweit ist, gibt es natürlich ein paar Hürden – besonders für Leo – zu nehmen.
Niemand kann alles. Niemand ist perfekt.
Camilla Chester: Nenn mich Löwe (Seite 97)
Stets an Leos Seite sind seine große Schwester und sein großer Bruder. Sie nehmen in der Geschichte nahezu die Rolle der Eltern an. Und hier ist ein kleiner Kritikpunkt an der Story. Die Eltern sind fast komplett abwesend. Erst am Schluss bekommt die Mutter ihren Auftritt. Wie die Familienkonstellation hier also genau ist, bleibt leider ungeklärt. Meine Kinder und ich hätten uns mehr Details gewünscht, damit ein noch runderes Bild entstehen kann. Ein paar zusätzliche Angaben zu den Familien und deren Rahmenbedingungen wären also das Tüpfelchen auf dem i gewesen.
Besonders gut gefallen hat mir, dass der Begriff Selektiver Mutismus direkt von Leo genannt wird. Bei Interesse kann sich der Leser also über diese Besonderheit im neurodiversen Spektrum näher informieren. Denn Selektiver Mutismus ist leider gar nicht so bekannt, obwohl er doch inzwischen recht häufig auftritt. Aus diesem Grund freue ich mich auch über jedes Buch, welches sich damit auseinandersetzt.
Leo beschreibt im Detail, wieso er nur mit seiner Familie und auch nur im eigenen Zuhause sprechen kann. Was in ihm vor sich geht, wenn er verstummt und wie schwierig es für ihn ist, im Mittelpunkt einer Situation zu stehen. Leo tanzt beispielsweise sehr gerne und möchte irgendwann im König der Löwen Musical auftreten. Dafür übt er jetzt schon fleißig, die Auftritte der Tanzgruppe stellen aber nach wie vor eine zu große Hürde für ihn da. Da Leo schon die ein oder andere schlechte Erfahrung gemacht hat, fällt es ihm immer schwerer, sich zu überwinden. Doch am Schluss kann er eine traumatisierende, schlechte Erfahrung mit einer ganz wundervoll neuen und guten ersetzen. Auch Richas Besonderheit der LRS findet Erklärung und so bekommt man ein gutes Bild über beides.
Noch eine Lüge, die ich nicht aus der Welt räumen kann. Ich bin nicht schüchtern, ich habe Selektiven Mutismus.
Camilla Chester: Nenn mich Löwe (Seite 116)
Neben der Aufklärung zu den Themen Mutismus und LRS gibt die Autorin anderen – eventuell ja selbst Betroffenen – außerdem ein paar Strategien an die Hand. Sie beschreibt eine hilfreiche Atemtechnik oder erklärt wie man die störende Stimme im Kopf ausblenden oder sich auf etwas anderes fokussieren kann. Außerdem kann ein erster Schritt aus dem Mutismus sein, mit dem Flüstern zu beginnen. Auch im Bereich LRS gibt es in den Text eingeflochtene Ratschläge, wie beispielsweise ein fesselndes Bilderbuch, dass man auch als größeres Kind oder Erwachsener zum Lesenlernen nutzen kann.
Nenn mich Löwe ist eine sehr ruhige Geschichte, was gut zu den tiefgründigen Themen passt. Man sollte hier keine super spannende Geschichte erwarten und dennoch stellt man sich natürlich die Frage, wie der Konflikt gelöst werden kann. Die Autorin zeigt mit ihren Figuren, warum es gut ist, offen und ehrlich miteinander zu sein, denn das macht vieles so viel leichter und man ist dabei weniger allein. Ich wünsche mir, dass dieses Buch auch beispielsweise in Schulen oder bei pädagogischem Personal (Erzieher, Lerher) zum Einsatz kommt, denn über etwaige Einschränkungen Bescheid zu wissen, bedeutet nicht, dass man sie auch versteht und nachvollziehen kann. Denn daran hapert es leider in unserer Gesellschaft immer wieder. Nicht sprechen zu können, heißt nicht, dass man nicht sprechen will. Hier ist noch so viel Aufklärungsarbeit nötig, dieses Buch kann ein guter erster Schritt dafür sein.
Wenn die Leute verstehen, dass ich nicht mit ihnen reden kann, dann erwarten sie es auch nicht mehr von mir. Das bedeutet, dass ich häufig fast unsichtbar werde. Manchmal ist es so, als wäre ich überhaupt nicht da.
Camilla Chester: Nenn mich Löwe (Seite 186+187)
Camilla Chester
Nenn mich Löwe
192 Seiten
ab 9 Jahren
ISBN 978-3-7348-4112-5
*Vielen Dank an den Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.*